Geografischer Frühschoppen ;-)

Ich stelle hier die Rede von Volker vor - nicht zuletzt, weil er sich mit meinem Literaturnobelpreisverdächtigen, aber leider völlig verkannten Werk beschäftigt hat: meiner Diplomarbeit:

Kl. Hinweis: Das ganze ist im Stil von Marcel Reich-Ranicki aus der ZDF-Sendung „Das literarische Quartett" vorzutragen, Altho mit lithpelndem eth, thääähr moduliert, etwath griethgrämig guckänd uund gethtikulieränd!

Volkers Rede

Zum Einklang das Rasumowsky- Quartett von L. v. Beethoven, op. 59, Nr. 3, 4. Satz Dann betritt Volker-MRR die Bühne! Und beginnt!

Meine sehr verehrten Damen, meine sehr geehrten Herren, liebes Publikum, lieber Herr Diplom-Geograf Marc Witte!

Ich heiße Sie alle herzlich willkommen zum heutigen Literarischen Quartett. Leider muss ich Ihnen zu Ihrem Bedauern mitteilen, dass das Literarische Quartett an diesem Abend ein wenig reduziert ist. So fehlt die von mir sehr geschätzte Sigrid Löffler. Sie musste sich nach ihrem nicht ganz freiwilligen Ausstieg aus dem Feuilleton der ZEIT nach einer anderen Arbeit umschauen und befindet sich gerade bei einem Bewerbungsgespräch in Berlin, wo sie eine Stelle als Raumpflegerin in der Reichstagskuppel anstrebt. Wir wünschen ihr an dieser Stelle viel Erfolg und Glück.

Ebenso ist heute nicht anwesend mein sehr verehrter Kollege Hellmuth Karasek. Für sein Fernbleiben von der heutigen Veranstaltung gibt es keine plausible Ausrede. Egal. Die Hauptsache ist, dass er ist nicht hier weilt. Wie Ihnen weiterhin aufgefallen sein wird, fehlt heute Abend gleichfalls unser Gastkritiker. Trotz aller Bemühungen und finanzieller Lockungen hat sich niemand finden können, der heute den Deppen spielen möchte. Das ist gut so. Freuen wir uns auf diesen ohne Literaturlaien belasteten Abend und kommen schnell zu unserem ersten (und heute Abend auch einzigen) Werk.

Es ist das Debüt-Werk des jungen Osnabrücker Schriftstellers und Diplom-Geografen Marc Josef Witte. Zuerst ein paar Lebensdaten dieses Mannes: Witte wurde am 19. August 1970 in Georgsmarienhütte geboren, ging zur Schule, hier und da, machte überraschend sein Abitur im Jahre 1990, leistete dann seinen Dienst am Vaterland und begann daran anschließend sein Studium in Osnabrück. Anfänglich fehlgeleitet begann er zuerst den Studiengang Angewandte Systemwissenschaft, eine brotlose Kunst, ein undefinierbarer Wirrwarr von vollkommen uninteressanten und abstrakten Inhalten, die dem Praktiker und Pragmatiker Witte nicht lagen. So entschloss er sich nach wenigen Semestern, von diesem Zug abzuspringen und sich der weitaus lukrativeren, angewandteren, inhaltsreicheren und weniger diffusen Geografischen Geschichts-Informatik hinzugeben. Dies war eine der besten Entscheidungen, die der junge Witte bis dahin getroffen hatte. Nun – das Studium lief, er machte sein Vordiplom, diese und jene und vielleicht sogar wieder eine andere Exkursion in alle Ecken und Zipfel und Breiten und Längen und Kulturen und Temperaturen des Globus‘. Bei alledem verlor er die Informatik nicht aus den Augen, im Gegenteil. Genug dazu. Bei einem Mann wie Witte ist es zwar anders zu erwarten, aber dennoch: Er machte schließlich sein Diplom, dessen elementarer Bestandteil seine Diplomarbeit ist. Diese Arbeit – sie ist meiner Meinung nach ein sehr gelungenes Debüt. Leider, leider sind nicht alle Kritiker meiner, d.h. der richtigen und einzig wahren, Meinung. Das ficht mich nicht an, im Gegenteil. Die Frage ist aber: Ist dies überhaupt eine Diplomarbeit? Ich würde sagen: Nein. Dies ist keine Diplomarbeit! Aber dafür ist sie etwas anderes. Sie ist Literatur! Sie ist ganz große Literatur! Diese Arbeit ist ein Meilenstein. Ein großes Buch, ein herausragendes Buch, ein besonderes Buch. Kurz: ein Buch. Doch ehe ich näher darauf eingehe, schildere ich in Kurzform den Inhalt. Der Titel lautet übrigens ... übrigens ... Wissen Sie – ein Problem habe ich immer mit diesen modernen, neo-konzeptionellen Werken: Ich kann mir den Titel nie merken! Letztens kritisierte ich das Erstlingswerk eines Mannes, der sich den Titel – wie war er noch? – genau! „Stadt Land Fluss" für sein Buch ausgedacht hatte. Völliger Blödsinn. Konnte ich mir nicht merken. Hab ich mir aufgeschrieben. Genauso ist es mit Wittes Werk. Der Titel sagt nichts, ist nichts und ein Fehlgriff. Er tut auch nicht zur Sache. Er ist einer der wenigen Schwachpunkte des Werkes. Nun nenne ich ihn doch, damit Sie mir keine Unvoreingenommenheit vorwerfen. Er lautet: „Ökologische. Bedingungen. Der. Kleinbäuerlichen. Landwirtschaft. In. Semi. Ariden. Gebieten. Namibias. Und. Das. Fallbeil. Nein. Fallbeispiel Oma. Omaheke." Das ist so schlecht. Ich muss danach – entschuldigen Sie – immer aufstoßen. Und etwas trinken. Danke. Wie auch immer – der Inhalt in Kürze:

Wittes Buch ist ein autobiographisch geprägtes, von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen getragenes Werk. Wissen Sie – es interessiert mich nicht, aber es ist dennoch spannend. Es handelt von der Reise des jungen Studenten Witte nach Afrika, genauer gesagt in die ehemalige deutsche Kolonie Namibia. Wir schreiben das Jahr 1997, Witte ist gerade 27 Jahre alt. Man möchte sagen – erlauben Sie mir diesen frivolen Scherz – noch grün hinter den Ohren. Er reist ohne Literatur, also praktisch mittellos, durch die Namib-Wüste und muss dort diverse Abenteuer bestehen. Dies ist an sich uninteressant und nicht wichtig, aber doch so geschrieben, dass der Leser sich nicht entziehen kann. Es ist spannend und betörend, geradezu erschreckend, wie Witte den Inhalt dieses Werkes zu gliedern versteht. Steinbruchartig bricht er bruchsteinhaft die Bruchstücke der Bruchsteine dieser seiner unbeirrbaren Thematik ab. Er beginnt kurios, furios, grandios, gnadenlos. Er beginnt gewagt und neu: mit der Einleitung! Über die ersten Worte eines Buches ist schon viel philosophiert worden. Es wird behauptet, sie seien alles. Das Portal des Werkes. Nun – dem kann ich mich so pauschal nicht anschließen. Aber speziell in diesem Beispiel muss ich sagen: Ja. Ja, es stimmt. Dieser erste Satz soll Grundlage meiner Werkkritik sein. Denn er ist gewissermaßen das Werk. In ihm finden wir alles, was es zu diesem Buch zu sagen gibt. Gutes, viel Gutes und auch kleine Schwachpunkte. Hören Sie, lauschen Sie und fühlen Sie. Der erste Satz:

„Grundlage dieser Arbeit ist ein dreimonatiges Praktikum, das von Februar bis Mai 1997 an der University of Namibia (UNAM) in Windhoek/Namibia durchgeführt wurde und bei dem die Erforschung der Lebensbedingungen der Kleinbauern in Omaheke im Vordergrund stand."

Haben Sie es auch gefühlt? Haben Sie es gespürt? Dieses Kribbeln, das einen überkommt, wenn man etwas Vollkommenes zu Ohren, Nase, Zunge oder Gesicht bekommt? Dieser Satz ist ein Universum, dessen Naturgesetze wir nicht kennen. Er ist ein Bild, das wir noch nie zuvor zerrissen haben und das uns doch hypnotisiert. Er ist ein Wein aus Trauben, die noch nie ein Mensch gelesen hat. Er ist eine Laterne im Dunkeln der Unwissenheit, der Torheit und der Schwärze der dumpfen Dummheit, die die Deppen der Dämlichkeit durchdrungen hat. Er ist der Elektrozaun, an dem ein Betrunkener sein Wasser lässt. Er ist Kaffee, den ein Teetrinker gekocht hat, um nie wieder Kaffee kochen zu müssen. Er ist die Billardkugel in unserem Gesicht, der Eisfuß auf unserem Bauch, der Zahnstocher im Ohr, die Nachttischlampe um 6 Uhr morgens, der aus Versehen auf Alarm statt Musik gestellte Radiowecker. Wir werden wach, und wir wissen warum! Aber wir können es nicht benennen, weil unser Verstand nicht ausreicht, diese Tiefe zu erfassen. Wir wissen, sie ist da, sie zieht uns in ihren Bann. Aber warum fällt ein Apfel vom Baum? Doch nicht, weil er es will! Er fällt, weil seine Zeit gekommen ist und er sich nicht länger wehren kann gegen die Kraft der Erdanziehung. Er saust zu Boden, dem Geist auf den Kopf. Dieser Apfel sind wir. Die Erdanziehung ist Wittes erster Satz. Und gleichzeitig sind wir auch der Kopf, auf den eben dieser Apfel fällt. So schließt sich der Kreis, und uns offenbart sich ein neues Universum voll glorreicher Metaphysik.

Wo glauben Sie, ist der Wendepunkt in diesem ersten Satz? Wo ist der Bruch zwischen traumwandlerischer Weltverklärtheit und surreal-realistischer Beobachtungsgabe, voller Kühle, Distanziertheit und der Brillanz eines Eiswürfels? Na – natürlich im Februar! Genauer im „Von Februar bis Mai 1997". Hier tritt zum ersten Mal der Realist und kühle Rechner Witte auf. War das „Grundlage dieser Arbeit ist ein dreimonatiges Praktikum, das" noch voll idealistischer und idealisierender Weltfremdheit (allein das Gefüge „Grundlage ... ist" kann den Melancholiker in uns zu Tränen rühren und doch jauchzen lassen), so ist das „von Februar bis Mai 1997" geradezu ein Musterbeispiel an investigativem, journalistischem Schilderungsdrang. Unbeirrbar zeigt sich hier die Detailverliebtheit Wittes, der Wunsch nach Genauigkeit und Nachvollziehbarkeit. Frau Löffler würde an dieser Stelle sicher einwerfen, Wittes Werk sei ein „Afrika-Roman". Nun – natürlich ist es kein Afrika-Roman, meine liebe Frau Löffler. Genauso wäre die Bibel ein Israel-Roman, „Asterix" ein Frankreich-Roman und das Telefonbuch ein Deutschland-Roman. Nein, liebe Frau Löffler, so einfach ist die Sache nicht! Wittes Kleinbauern in Namibia interessieren mich nicht, weil sie Afrikaner sind. Omaheke interessiert mich nicht, bloß weil es in Afrika liegt. Die Namib-Wüste interessiert mich nicht, nur weil es dort so trocken ist. Die Landwirtschaft interessiert mich nicht, weil sie so stinkt. Nein. Was mich interessiert ist Li-te-ra-tur!! Literatur – und sonst gar nichts. Witte hätte auch über Eskimos oder Meerschweinchen, über Autos oder Frauen, über Bier oder Fieberthermometer schreiben können. Ist mir egal. Ist mir ganz egal. Wichtig ist nur, dass er es so geschrieben hat, wie er es geschrieben hat. Dass er, um es mit Goethe zu sagen, den Menschen in seinem Innersten anrührt. Oder, mit Brecht, dass er die Scheiße lockert, die unterm Schuh klebt. Das ist Literatur. Und das ist Wittes Qualität, meine liebe Frau Löffler, meine Damen und Herren.

Fahren wir fort. „An der University of Namibia (UNAM) in Windhoek/Namibia durchgeführt wurde." Witte ist ein Schelm! Ein Schlemihl! Und ein wenig arrogant. Er kokettiert mit seiner Weltgewandtheit, seinem Globetrottertum und auch seiner Abenteuerlust. Er sagt: „Schaut her, wer ich bin, was ich kann, wo ich war. Aber schaut nicht zu lang, sonst seid ihr geblendet. (Und in Wirklichkeit war ich gar nicht da!)" Gönnen wir Witte diese kleine Schwäche. Sie macht sein Werk sympathisch, nimmt ihm etwas von der schon beinahe unnatürlichen Perfektion. Sie zeigt den Karl May Witte. Im nächsten Augenblick droht ein schwarzer Winnetou oder ein brauner Old Shatterhand hinter dem Busch hervorzuspringen und dem Leser die Silberbüchse vor die verdutzte Nase zu halten. Dies ist die mit Abstand schelmischste und naseweiseste Stelle in diesem Satz.

Doch lesen wir weiter, lernen wir den Komiker, den Charmeur, den Spaßvogel, ja, den Entertainer Witte kennen: „Und bei dem die Erforschung der Lebensbedingungen." Als ich diese Stelle das erste Mal las, musste ich schallend lachen. Sie übertrifft Kants „Kritik der reinen Vernunft", sie stellt Scheffer/Schachschabels „Bodenkunde" in den Schatten, sie schlägt Fischers „Lineare Algebra" um Längen. Diese schon vor Schalk und Witz sprühenden Werke werden von ein paar Worten Wittes widerstandslos in die Schranken und auf die Plätze 2, 3 und 4 verwiesen. Schaue ich in die Runde – sehe ich eine humorlose Bande! Sind Sie schon so abgebrüht, dass Sie bei einem so pointiert gebrachten „Erforschung der Lebensbedingungen" kalt bleiben? Was brauchen Sie? Einen platten, dumpfen Witz, der die Pointe mit dem Holzhammer, mit der Dampframme schlägt, damit auch der kleinste und niederste Geist zum Lachen bewegt werden kann? Sollen Sie haben! Sollen Sie haben! Neulich war ich mit Hellmuth - Herrn Karasek - in unserer Stammkneipe „Zum alliterierenden Alkoholiker". Wir saßen am Tresen und unterhielten uns über Belanglosigkeiten. Ich glaube, es ging gerade um Günter Grass. Da öffnete sich die Tür, und mit dem Wind kam eine Person herein, die uns und die Ihnen wohl bekannt ist. Es war, nun, wer kann es sich nicht denken? Genau. Ich war es! Ich kam herein! Ich! Das ist doch eine Überraschung, oder? Ist das keine Pointe nach Ihrem Geschmack? Das war witzig! Das hatte Esprit! Charme! Humoooooor!!!! Ich sehe – so etwas kennen Sie nicht.

Nun. Dann fahre ich fort, denn jetzt folgt etwas, das Sie wohl alle brennend interessiert, was? Hmmm? Mich auch. Natürlich. Jetzt kommt etwas, das wohl jeden von uns beschäftigt, unsere Gedanken lenkt, unser Handeln bestimmt, die Gesellschaft formt. Etwas, das sicherlich niemanden, naja, ich hoffe jedenfalls niemanden, unberührt lässt. Ein Thema, das die Menschheit seit ihrem Beginn immer beschäftigt hat und auch weiterhin immer beschäftigen wird. Jeder (und jede) von uns denkt täglich daran, da bin ich mir sicher. Jeder (vielleicht nicht jede) lässt sich davon leiten. Nun? Können Sie es sich denken, was es ist? Mhm. Sicherlich. Muss ich es aussprechen? Ja? Nein. Muss ich nicht. Ich lese den Rest des Satzes, dann wissen Sie was ich meine: „Der Kleinbauern in Omaheke im Vordergrund stand." Hohoho! Da geht der gute Witte aber mächtig zur Sache, was? Sagen Sie mir, wie finden Sie den Satz? Was spüren Sie? Ich sage Ihnen, was Sie spüren! Ich sagen Ihnen, was jeder spürt, der dies liest oder hört! Knisternste Erotik! Fast unverhüllten Sex! Einfach wunderbar dargestellt. Nein – „dargestellt" ist vielleicht genau das falsche Wort. Denn Witte stellt nicht dar, er lässt sich den Leser die Darstellung vorstellen! Kongenial! Erhebend! Anregend! Aber nie pornographisch. Nur nahe daran. Das unübertrefflich Geniale ist ja gerade, dass die Grenze nicht überschritten wird. Jeder bekommt zwar Beengungen im Schritt, jede rutscht auf dem Stuhl hin und her, aber doch bleibt Witte auf der neutralen Seite, bewahrt die Distanz und schaut dem Jugendschutz weiterhin freundlich ins Gesicht. (Und der lächelt verklemmt, mit leicht rotem Gesicht und machtlos zurück.)

Dies war der erste, furiose Satz aus Wittes literarischem Meisterwerk. Zwar kein großer Griff als Diplomarbeit, doch ein epochaler Meilenstein der Gegenwarts- und ich möchte auch sagen Zukunftsliteratur! Und – glauben Sie mir! – das Buch geht genauso weiter, wie es begonnen hat! Sie lesen den ersten Satz und können nicht mehr aufhören zu lesen, lesen, lesen. Jeder folgende Satz, die Linie des ganzen Buches ist wie dieser Satz. Auch wenn wir nun schon praktisch alles kennen, so ist alles Folgende dennoch eine Offenbarung. Meine Damen, meine Herren. Dieses Buch wird den Literatur-Nobelpreis bekommen! Wenn selbst ein Günter Grass ihn mit seinem Schund bekommt – dann ein Witte drei Mal! Damit wären wir am Ende angelangt. Wir sehen betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Danke.


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